Philosophische Praxis

Was in der Philosophischen Praxis praktiziert wird geht über die Psychotherapie hinaus. Hier werden keine krankheitswertigen Störungen beseitigt bzw. in einen als gesund oder neurosefrei definierten Normalbereich verschoben. Hier erfolgt keine Heilung durch Anwendung von Techniken und Methoden, die von einer der zahlreichen psychotherapeutischen Schulen und Vereine gelehrt werden. Praktizierte Philosophie kann dort helfen, wo die Psychotherapie als Fach nicht zuständig oder kompetent ist, weil deren Konzepte im Vergleich zur philosophischen Lebenskunde ein „eklatantes Theorie- und Reflexionsdefizit“1 aufweisen. Etwa bei allgemein schwierigen Lebensfragen. Dort wo man mit seiner Weisheit am Ende ist, wo man sich keinen Rat mehr weiß, oder einfach auf der Suche nach dem Selbst oder dem Lebenssinn ist. Oder auch dort wo Zwischenmenschliches, Geschäftliches und Gesellschaftliches „selbst-bewusste“ Antworten abverlangt. Ein philosophisch geschulter Praktiker kann gleichsam mit einem Sherpa verglichen werden. Mit ihm kann man Höhen erklimmen, wo die Luft dünn und der Anstieg schwierig wird, um letztlich zu einem Aussichtspunkt zu kommen, von dem aus man weiter sehen kann als vom Basislager.

Nicht dass der Philosoph sich einbildet, die „Weisheit mit dem Schöpflöffel gegessen“ oder sie „gepachtet“ zu haben. Er will auch niemandem überheblicherweise die „Weisheit eintrichtern“, sondern sie mit dem Ratsuchenden gemeinsam finden, – als eine Art geschulter Denkpartner, der die Philosophie als Wissenschaft der grundlegenden Lebensfragen studiert hat – und darüber hinaus als Psychologe über fundierte Sachkenntnis verfügt. Dabei geht es nicht um hochgestochenes akademisches Philosophieren, sondern um das empathische und konzentrierte Streben, mit dem Klienten oder der Klientin das gewünschte Ziel zu erreichen. Dass dies nur in einer gedeihlichen Atmosphäre geschehen kann, ist selbstverständlich.

Schon Aristoteles hat vor 2000 Jahren geschrieben, dass eines der wenigen Dinge die im Leben letztlich glücklich machen, das Philosophieren ist. Manche werden süchtig davon …

Weisheit als Kriterium

Als archetypischer Weiser gilt ein Mensch der ins Alter gekommen ist, der viel erlebt und seine Lehren daraus gezogen hat. Einer, der sich durch gesammelte Erfahrungen auskennt. Kurzum, einer, der durch Übersicht und Durchblick zu Abgeklärtheit und inneren Ruhe gefunden hat. Vergleichbar damit hat ein Philosoph zumindest die intellektuelle Möglichkeit, einen Erfahrungsrahmen zu überschauen, der wesentlich breiter ist, als jener einer einzelnen Lebensspanne. Er kann aus 2500 Jahre Philosophiegeschichte lernen, die sich wissenschaftlich mit der Lebensführung und allen Wichtigkeiten beschäftigt hat. Ein Philosoph vermag also auf eine reiche Tradition des schon vernünftig Gedachten zurückgreifen und kennt Möglichkeiten, durch das Be- und Nachdenken von Lösungsstrategien aus Sackgassen herauszukommen.

Bildlich gesprochen kann man kleine Stolpersteine auf dem Lebensweg einfach händisch aus dem Weg räumen, schwere hingegen nur mittels geeignetem Werkzeug. Der Griff zur richtigen Gerätschaft hängt aber einerseits von werkzeugkundlicher Kompetenz ab und andererseits vom Wissen über Wesen und Natur des Wegzuräumenden. Beides hat die Philosophie als Gesamtwissenschaft strebsam zusammengetragen. So gesehen ist Weisheit Expertentum im Umgang mit schwierigen Fragen des Lebens2. Sie beinhaltet die Bereitschaft aus Erfahrung klüger zu werden und die Folgen seines Handelns hochrechnen zu können. Diese Eigenschaften sind nur über eine „Entfaltung des Subjekts“³ möglich, damit dieses sein selbstverwirklichendes Potential ausschöpfen kann.

In gewissem Sinne ist praktizierte, bzw. angewandte Philosophie ein Vorgang des Transzendierens, weil die bisherigen Grenzen der Erfahrung und des Denkens überschritten werden und Freiheit gewonnen wird durch das Übersteigen von unreflektierten Reaktionsweisen und sprachlichen Begriffskorsetten. Der Dialog wird so geführt, dass Klienten gleichsam „in einen anderen Bewusstseinszustand hineinblühen können, der ihnen nicht nur erlaubt, sich selbst und ihre Welt mit weitaus größerer Genauigkeit zu sehen als gewohnt, sondern in Farbe zu sehen, wo sie vorher nur in dichotomem Schwarzweiß sahen“4.

Neben der rationalen Problemlösungslogik erfordert Weisheit aber auch einen anderen Wahrneh-mungs- und Wirkungsmodus um der Realität gerecht zu werden. Nicht umsonst war es ausgerechnet der Mathematiker Baise Pascal der auf die Notwendigkeit der Herzenslogik hinweist: „Das Herz hat seine Gründe, welche die Vernunft nicht kennt.“5 Ohne Herzensbildung wird aus Wissen niemals Bildung.

Für eine umfassendere Form der Informationsverarbeitung bedarf es neben der Persönlichkeitsbildung auch der Entwicklung von Intuition. Dazu bedarf es des „Zu Sich Kommens“ etwa durch kontemplatives oder meditatives Einüben. Das Wort Meditation leitet sich ab vom lateinischen meditari = zur Mitte ausrichten. Man sammelt sich, trägt sich gleichsam aus Teilen zusammen und sucht seine Mitte. Man findet sich, indem man ganz wird, ins Gleichgewicht kommt und seine Form findet. Voraussetzung dafür ist der Einklang mit sich selbst. In den Gesprächen zeigt sich oft, dass dieser erst gefunden werden kann, wenn der Widerspruch von individuellem Handeln und eigenem Werturteil auffällt und Übereinstimmung hergestellt wird.

Sinn- und Selbstfindung

Es wird hinterfragt, was grundsätzlich fragwürdig ist, also würdig genug, um überhaupt in Frage gestellt zu werden. Es wird der Frage nachgegangen, welche Fragen zu einem Trugschluss führen, weil sie entweder falsch gestellt werden, oder an sich unsinnig sind. Grundsätzlich geht es um die Entwicklung der Fähigkeit, etwas „zur Sprache zu bringen.“ Also buchstäblich einen Begriff vom Fraglichen zu gewinnen, um zu begreifen, worum es eigentlich geht und was einer Lösung im Wege steht. Und sei, dass man in einem zunehmend heller werdenden Frageraum begrifflich das einkreist, was sich nicht klar sagen lässt.

Es leidet beispielsweise derjenige, der keine Antwort auf die Frage weiß, wie er seinem Leben Sinn geben kann, oder auch mit völlig überzogener Sinnerwartung sein Dasein überfordert. Sinn und Leid sind aufeinander bezogen: „Was gegen das Leiden empört, ist nicht das Leiden an sich, sondern das Sinnlose des Leidens“7 sagte schon Friedrich Nietzsche. Ähnlich formulierte es auch Peter Sloterdijk: „Depressiv wird, wer Gewichte trägt, ohne zu wissen wozu. Der Depressive begegnet den Lasten nicht mit Positivismus, sondern mit einem Aufgebot ruinöser Anstrengung. In dieser fügen sich Angestrengte die Härten des Lebens noch einmal selber zu und schaffen somit die Ausgangslage für depressive Schwächungen.“8

Gerade im Zusammenhang mit burn out stellt sich oft die Frage, welchen Sinn die ganze Plagerei und Hetze im täglichen Hamsterrad hat und verzweifelt, weil man keine befriedigende Antwort findet. Zum einen deshalb, weil die Frage nach dem Sinn des Lebens an sich schon prekär ist. Es gibt keinen a priori Sinn des Lebens. Wir selbst sind die Sinngeber unserer Existenz. Diese Sinnstiftung gelingt aber nur dann, wenn wir wissen, was uns ausmacht, Bedeutung hat, fasziniert oder gar leidenschaftlich zur Verwirklichung drängt. Nur dann können wir aus dem ganzen Universum der Sinnmöglichkeiten das uns gemäße wählen. So betrachtet geht es um Selbst-verwirklichung als Grundlage eines gelungenen Lebens und der eigenen Biografiezufriedenheit.12 Das ist schon deshalb schwierig, weil man sich „dieser alltäglichen Ausgelegtheit, in die das Dasein zunächst hineinwächst,“13 nie ganz entziehen kann. Es ist das nicht hinterfragte Hingenommene und das ungeprüft Geglaubte an das man gewohnheitsmäßig sein Denken, Handeln und Fühlen ausrichtet. Es ist einem so vertraut, dass es leicht übersehen wird. In der Philosophischen Praxis arbeitet man am Durchblick, am Sehen und Verstehen dessen, was tatsächlich der Fall ist. Darin erfüllt sich zum einen ihre Aufgabe, denn die Philosophie ist nach Ludwig Wittgenstein „keine Lehre, sondern eine Tätigkeit.“14 Zum anderen wird von ihm auch das Tätigkeitsfeld umrissen: „Die Welt ist alles, was der Fall ist.“15